Wie ich lernte komplex zu sehen!
Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit einem Bild von Alex Webb. Es war eine Aufnahme aus Mexiko, abgedruckt in einem Buch über Straßenfotografie!
Später hatte ich dann noch das Glück, es live in einer Ausstellung als Original zu sehen!
Was ist es, was mich an diesem Bild so fesselt?
Hie ist das fast Unmögliche möglich!
Drei Geschichten in einem Bild: Ein Paar in enger Umarmung im Vordergrund, ein zweites Paar – nur als Silhouette sichtbar – in inniger Haltung vor einer Wand. Und links im Bild ein Mann, der sich einen Comic vor das Gesicht hält. Licht und Dunkelheit teilen die Szenerie wie ein Bühnenbild.
Eine Szene voller Gegensätze, voller Spannung, voller Intimität – es werden Fragen gestellt aber keine Antworten gegeben.
Vollkommen offen für Interpretation.
Und ja: es sind drei Geschichten, unabhängig voneinander und trotzdem, und das ist es, hat es die Energie der Gemeinsamkeit des Momentums.
Dieses Bild begleitet mich heute noch. Ich bin fasziniert von der Dichte, von der Vielschichtigkeit – aber auch von der Ruhe, die darin liegt, trotz des scheinbaren Chaos.
In dieser ersten Begegnung wusste ich: Ich will lernen, so zu sehen.
Wie bekomme ich Ordung in Komplexität?
Wie kann ich, durch Licht und Schatten, mit den verschiedenen Ebenen arbeiten?
Welche Rolle spielt die Silhouette im Hintergrund?
Ich wollte in meiner eigenen fotografischen Sprache komplexer, mutiger und aufmerksamer werden.
Alex Webb | The Suffering of Light; Street scene. Nuevo Laredo, Tamaulipas; Mexiko 1996 ©Alex Webb | Magnum Photos
Wer ist Alex Webb?
Kann es mir zwar nicht vorstellen, daß es jemanden gibt, der sich für Street Photography interessiert und nichts von ihm gehört/gelesen hat aber auch ich musste ja zu Beginn eine Weile auf diese Begegnung warten ... also.
Ich verstehe sowieso nicht so ganz, weshalb so viele heute fortgeschrittene und etablierte Fotografen* der Strasse vergessen haben, wie sie als Beginner unterwegs waren ... Aber das ist in anderen Genres auch so. Sehr merkwürdig.
Aber nur sehr kurz und prägnant, ausführlich ist es auf >>> Wikipedia nachzulesen.
Alex Webb wurde 1952 in San Francisco geboren und ist einer der prägendsten Streetfotografen unserer Zeit. Seit 1976 ist er Mitglied der renommierten Fotoagentur >>> Magnum Photos – ein Kreis, indem man berufen wird und, nach einer Probezeit, nur wenige aufnimmt und noch weniger dauerhaft halten.
Webb wurde vor allem durch seine farbintensiven, komplexen Aufnahmen aus Lateinamerika, der Karibik, Afrika und Südeuropa bekannt. Seine Bilder wirken oft wie Theaterstücke des Alltags: mehrere Ebenen, sich überlagernde Gesten, Reflexionen, Licht und Schatten, die wie Figuren mitspielen.
In einer Zeit, in der viele Fotografen noch auf Schwarzweiß schworen, entschied sich Webb bewusst für Farbe – nicht als dekoratives Mittel, sondern als erzählerisches Werkzeug.
Was ihn für mich so besonders macht, ist nicht nur seine Bildsprache, sondern auch seine Haltung:
Webb ist Teil des Geschehens – Beobachter und Mitfühlender zugleich.
Exemplarisch sollen hier an dieser Stelle seine Arbeiten aus dem Buch >>> "The Suffering of Light" genannt werden, das ich sehr empfehlen kann.
Darüber hinaus sind die Impulse seiner Frau >>> Rebecca als Fotografin und Poetin unglaublich kreativ!
LERNEN DURCH NACHAHMEN ...
Über Vorbilder, Wiederholung und Befreiung
Nach einiger Zeit des studierens der Arbeiten von Alex Webb, ertappte ich mich dabei, daß ich "Webb-Szenen" suchte.
Nicht um ihn zu kopieren, sondern um herauszufinden, was ICH in einer ähnlichen Situation sehen würde und ob es mir gelänge, verschiedene Ebenen durch Licht und Schatten in den Rahmen der Kamera zu komponieren.
Auch wenn mein Bild unten doch sehr ein Zitat von Alex Webb ist, was ich persönlich nicht schlimm finde, zeige ich dort doch schon meinen eigenen Weg.
Es lohnt sich, seinen Vorbildern nachzueifern - um zu verstehen, wie sie sehen und um sich zu schulen, die Tiefe ihrer Sichtweise zu erkennen. Durch das sehr bewusste Suchen nach ähnlichen Motiven, das Komponieren vergleichbarer Layerings aus Licht, Schatten und menschlicher Bewegung, beginnt eine tiefgreifende fotografische Erfahrung.
Man ahmt nicht nur nach - man lernt durch das Tun!
Man versteht, wie komplex es ist, solche Bilder zu erschaffen. Und genau in diesem Prozess - dem Wiederholen, Scheitern, Beobachten - beginnt sich langsam eine eigene Sprache zu formen.
Im besten Fall löst man sich irgendwann von der Frage: " Wie hätte er es gesehen?" und beginnt zu entdecken,
wie man selbst sieht!
Im übrigen gilt das natürlich für jegliche mir impulsgebenen Fotografen wie Matt Stewart, Tony Ray-Jones, Joel Meyerowitz, Vivian Maier oder Harry Gruyaert ... um nur einige der bekannten zu nennen. Durch das Studieren ihrer Werke, eignest Du Dir gewissermaßen ihr Sehen an ... . In diesem Artikel soll es jedoch nur um den Einfluss von Alex Webb in meiner Arbeit gehen.
Palma de Mallorca; Placa Major 2023 © jfk
Lehrmeister Chaos: Was Webb mir zeigte
Was mich an Alex Webbs Fotografie von Anfang an fesselte, war seine kompromisslose Arbeit mit Farbe und Licht. Auch ich bin ein Fan der Farbe! Monochrome Fotos haben zweifellos ihre Faszination, kanalisieren jedoch aus meiner Sicht die Blickwinkel, wie durch einen Filter. Die Welt ist bunt und so möchte ich sie auch abbilden.
In einer fotografischen Welt, die oft nach Klarheit strebt, sucht Webb das Komplexe , das Vieldeutige.
Seine Bilder sind keine einfachen Antworten – sie sind Fragen. Und genau das hat mich gepackt.
Farbe ist hier kein Beiwerk – sie ist Stimmung, Struktur und Bedeutung zugleich. Er fotografiert oft bei hartem, direktem Sonnenlicht – in Momenten, in denen viele andere ihre Kamera wegpacken würden. Gerade dann entstehen bei ihm diese vibrierenden Szenen, in denen Licht und Schatten miteinander ringen.
Durch das Leben in Spanien komme ich in den Genuss des Lichts das ganze Jahr über. Besonders im Oktober wird die Insel in ein sagenhaftes, fast magisches Licht getaucht, das ich noch nirgends anders so wahrgenommen habe!
Besonders beeindruckt mich seine Fähigkeit, komplexe Kompositionen zu beherrschen, ohne dass sie konstruiert wirken. In seinen Bildern passiert vieles gleichzeitig – vorne, hinten, seitlich. Man hat das Gefühl, man könne sich im Bild verlieren. Und doch halten sie zusammen – durch Farbe, Linie, Lichtführung. Und die Klarheit im Chaos.
Layering in Perfektion!
Immer wieder arbeitet Webb mit Reflexionen, Durchblicken, Schatten – fast so, als würde er mit der Realität selbst spielen. Aber nichts daran wirkt gesucht. Er ist einfach da, im richtigen Moment, mit offenen Augen.
Für mich als Streetfotograf war das eine Art Erlaubnis: dass Bilder nicht perfekt, nicht aufgeräumt sein müssen. Dass gerade im Chaos Schönheit liegt. Dass man nicht alles erklären muss – sondern Atmosphäre zeigen darf.
Zitat: Alex Webb - Foto: Palma de Mallorca |08|2025| ©jfk
Der Einfluss auf meine Arbeit
Natürlich bin ich, wie die meisten von uns, durch verschiedene Phasen gewandert und habe mich dort abgearbeitet.
So war ich oft auf der Suche nach dem einen klaren Motiv – nach Reduktion, Ruhe, vielleicht sogar Kontrolle. Ich wollte Ordnung im Bild. Eine klare Message.
Webbs Bilder haben mich dazu gebracht, mich dem Gegenteil zu öffnen: dem Zufall, dem Durcheinander, der Gleichzeitigkeit. Statt die Szene zu beherrschen, versuche ich heute, sie geschehen zu lassen. Ich beobachte länger, warte geduldiger, nehme mehr wahr – in alle Richtungen.
Auch meine Beziehung zu Licht veränderte sich. Ich bin früher dem Rat gefolgt, hartes Sonnenlicht zu meiden
( Fuck the rules!!) – heute sehe ich darin eine Bühne. Harte Schatten, blendende Flächen, Silhouetten – sie erzeugen Tiefe und Spannung.
Besonders prägend war für mich der Moment, in dem ich begonnen habe, nicht nur „ein“ Motiv im Bild zu suchen, sondern mehrere Ebenen gleichzeitig zuzulassen. Menschen im Vordergrund, andere im Schatten, Bewegungen im Hintergrund und an den Seiten – das alles darf nebeneinander bestehen. Ich habe gelernt, dass ein Bild auch dann funktioniert, wenn es nicht sofort „lesbar“ ist.
Webb zu kopieren wäre sinnlos.
Aber er hat mir eine neue Art zu sehen geschenkt.
Eine größere Offenheit, ein tieferes Vertrauen in die Unvorhersehbarkeit der Straße.
Hier ist ein Beispiel aus meiner eigenen Arbeit, das stark von Webb inspiriert ist:
Barcelona |06|2024| ©jfk
Die Überlagerungen in dieser Komposition von Innen- und Außenwelt, Spiegelungen, Schärfe und Unschärfe, die zentrale Figur mit direktem Blick, ein fast filmisches Licht und die Silhouette im Hintergrund, ist definitiv ein Bild, das die Webb’sche Komplexität aufgreift, aber deutlich MEINE eigene Handschrift trägt.
In diesem Bild verwebe ich den Innen- und Außenraum miteinander – über Spiegelungen, Reflexionen und sich überlagernde Ebenen. Inspiriert von Webbs Umgang mit Licht und Komposition habe ich, durch Glas fotografiert, eine zusätzliche Technik angewendet, indem ich sehr nahe an die Scheibe heran ging und durch meinen eigenen Schatten eine Durchsicht auf das Innere des Raumes habe, während sich drum herum alles spiegelt.
Was mich daran reizt, ist die Spannung zwischen Nähe und Distanz, zwischen dem klaren Blick auf die junge Frau. den fragmentierten Körpern um sie herum und der geheimnisvollen Silhouette im Hintergrund.
Hier tauchen Fragen auf. Technisch und inhaltlich.
Es entsteht eine Irritation, eine Reibung.
Ein Bild, das sich nicht sofort entschlüsselt – genau das fasziniert mich.
Inspiration statt Imitation
Das fotografische Sehen wird natürlich durch das Studium anderer Arbeiten geprägt!
Genau das ist der Wert darin, sich intensiv mit der Arbeit anderer Fotografen auseinanderzusetzen:
Unser fotografisches Unterbewusstsein speichert diese Eindrücke. Wenn wir ähnliche Lichtsituationen, Schattenwürfe oder Bildkompositionen erleben, ruft unser Gehirn sie unbewusst ab – nicht als Kopie, sondern als Impuls.
Ich bin überzeugt: Hätte ich das Webb-Bild oben nie gesehen, hätte ich die Szene wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen – oder zumindest nicht so klar. Es war das innere Echo, das mir half, den Moment zu erkennen.
Deshalb lohnt es sich, die Arbeiten derer zu studieren, die einen faszinieren. Nicht aus Ehrfurcht oder zur bloßen Nachahmung, sondern um die eigene Wahrnehmung zu trainieren.
Denn Sehen ist ein Prozess – und unsere Vorbilder sind Teil davon.
Natürlich war da am Anfang der Drang, es ihm nachzumachen. Ich suchte nach komplexen Szenen, nach Licht-Schatten-Spiel, nach dieser typischen Webb-Dichte. Aber ich merkte schnell: Man kann seinen Blick nicht kopieren. Man kann sich nur von ihm inspirieren lassen – um seinen eigenen zu schärfen.
Mit der Zeit begann ich, mich zu fragen: Was sehe ich ?
Welche Bilder entstehen, wenn ich nicht wie jemand anderes fotografiere, sondern wie ich selbst?
Ich fing an, meinen Rhythmus zu finden – ruhiger vielleicht, kontemplativer, manchmal auch intimer.
Die Lehren, die ich aus Webbs Arbeit gezogen habe, sind geblieben: Offenheit für Mehrdeutigkeit. Mut zur Unschärfe – auch im Erzählerischen. Das Vertrauen, dass ein Bild nicht alles erklären muss. Aber meine Fotografie bewegt sich heute in anderen Räumen, mit anderen Farben, anderen Tempi.
Vielleicht ist das die größte Wirkung eines Vorbilds: Es zeigt dir nicht, wie du sein sollst, sondern wie tief du sehen kannst, wenn du es ernst meinst.
Was bleibt?
Die Auseinandersetzung mit Alex Webb´s Arbeiten war ein Wendepunkt. Seine Bilder haben mein fotografisches Denken herausgefordert, meinen Blick geschärft und meine Geduld trainiert. Sie haben mir gezeigt, dass man nicht nur abbilden, sondern auch erzählen, komponieren und deuten kann – mit Farbe, Licht, Schatten und Chaos.
Ich habe viel durch ihn gelernt – vor allem, wie tief Fotografie sein kann, wenn man sie ernst nimmt.
Wie komplex der Augenblick ist.
Wie vielschichtig eine Szene sein darf.
Und wie wertvoll es ist, sich als Fotograf immer wieder selbst zu hinterfragen.
Doch genauso wichtig war für mich der Moment, in dem ich begonnen habe, mich von diesem Einfluss zu lösen. Nicht im Sinne eines Abbruchs – sondern im Sinne einer Weiterentwicklung.
Webb war das Fundament.
Die Richtung.
Aber was daraus entsteht, ist mein eigener Weg.
Was bleibt? Der Respekt vor einem großen Künstler.
Die Dankbarkeit für die Bilder, die mich zum Nachdenken und zum Hinsehen gebracht haben. Und der Wunsch, diese Tiefe auch weiterhin in meinen eigenen Bildern zu suchen und zu verbessern, als ehrlicher Ausdruck meiner eigenen Sicht auf die Welt.
Danke für Deine Zeit

©jfk 2025
>>> Link zum Workshop gemeinsam mit Agnes Burger im Oktober 2025
>>> Workshop 1:1; Palma de Mallorca
* Um die deutsche Sprache flüssig zu halten, wurde im Text die männliche Form gewählt,
nichtsdestoweniger bezieht sich die Anrede auf Angehörige aller geschlechtlichen Identitäten.
Kommentar schreiben